Reframing Cancer: Frecher Content gegen den Krebs

Egal, wie du über Krebs sprichst. Hauptsache, du tust es! Das ist der Ansatz von Kurvenkratzer – InfluCancer. Gründerin Martina Hagspiel verrät im Interview, worauf es ihr bei der Kommunikation ankommt und warum Humor nicht fehl am Platz ist.

Der 2018 gegründete Verein Kurvenkratzer – InfluCancer nimmt sich kein Blatt vor den Mund und kommuniziert den Lebensumstand Krebs in all seinen Facetten bunt und mit Humor. Da wir von Egger & Lerch Pharmafirmen in Fragen zur Kommunikation betreuen und Gesundheitsmagazine herausbringen, wollten wir von Patientenvertreterin Martina Hagspiel wissen, warum sie sich für diesen Weg entschieden hat und was sich Betroffene wünschen – mit teilweise überraschenden Antworten: Etwa warum es auch etwas Gutes haben kann, wenn Kickstarter-Projekte scheitern. 

Martina, du hast deine Erfahrungen als Krebspatientin zum Beruf gemacht. Warum hast du dich dafür entschieden?
Martina Hagspiel:
Ich habe damals bemerkt, dass mein Umfeld von der Situation total überfordert ist, und wusste auch selbst nicht, wie es mich unterstützen könnte. Es ist ja auch schwer, nach einer Krebsdiagnose sozusagen auf die Metaebene zu klettern und anderen eine Hilfestellung zu bieten. Angehörige fühlen sich mit ihren Sorgen und Ängsten weitgehend alleingelassen. So ist die Idee für Kurvenkratzer entstanden, als Erfahrungsplattform zum Lebensumstand Krebs.

Wie ging es dir als Patientin?
Ich hatte viel Glück, mein Arzt und meine Ambulanzärztin waren toll. Aber es gab schon auch fragwürdige Situationen, wo ich erkannt habe, dass man den drei Dialoggruppen – also Medizinerinnen und Medizinern, Erkrankten und Angehörigen – die jeweils anderen Perspektiven erklären muss. 

Wie kam es zur Gründung von Kurvenkratzer?
Anfangs war Kurvenkratzer ein Buchprojekt, für das wir über die Crowdfunding-Plattform Kickstarter auf 53.000 Euro gekommen sind – und damit unser Ziel von 75.000 nicht erreichen konnten. Wir waren tatsächlich eines der ersten zehn Kickstarter-Projekte in Österreich, entsprechend beratungsintensiv war das damals. Wir mussten den Leuten erklären, was Crowdfunding überhaupt ist. Dass wir die Finanzierungsschwelle nicht erreicht haben und das Projekt somit gescheitert ist, hat sich im Nachhinein als Glück erwiesen. 

Wie meinst du das? Was ist gut am Scheitern?
Dass wir dazu übergegangen sind, das Ganze digital und in Geschichten zu denken. Wir haben Videos produziert und online geteilt, in denen alle Personen die gleichen acht Fragen zu ihren Erfahrungen mit Krebs gestellt bekommen, etwa welche drei Tipps sie ihrem damaligen Ich geben würden. Das machen wir bis heute, weil sich so eine positive Geisteshaltung zeigt, die wir unterstützen wollen. Krebs wirkt sich auf den gesamten Lebenswandel aus, auch nach Überwinden der Erkrankung – man isst anders, man lebt anders. All diese Aspekte wollen wir aufgreifen. 

Krebs ist ein schwieriges Thema, aber du gehst sehr offen und auch humorvoll damit um. Ist das ein Widerspruch? 
Mir bereitet die Arbeit Freude und Spaß, wir lachen auch viel im Team. Das hängt mit unserer Herangehensweise zusammen. Sogar für Themen wie Tod und Trauer haben wir Leute gefunden, die sie humorvoll und angstfrei besprechen können. Für mich persönlich ist Kurvenkratzer das Gute, das aus meiner Erkrankung entstanden ist. Wir sind keine klassische Selbsthilfe, wo sich Menschen vor Ort austauschen, sondern haben das Ohr an der Community und schauen, welche Inhalte besonders gefragt sind. Das fällt uns leicht, denn wir sind selbst Betroffene. Vielfach wählen wir bewusst provokante Headlines und eine bunte, freche Bildsprache und versuchen damit, ein Reframing zu schaffen, die Themen also anders aufzuziehen und neue Assoziationen auszulösen.


Gibt es auch Tabus, sprich rote Linien, die man nicht überschreiten sollte?
Ja, sicher. Mein Team ist mein interner Filter. Das ist gut, denn ich persönlich bin von meinem Humor her durchaus auch grenzüberschreitend. Die Grenze liegt da, wo der Inhalt nicht wertschätzend ist bzw. wo Angst und eine negative Denkweise ausgelöst werden. Die Botschaft selbst sollte allerdings nicht unrealistisch sein, es geht nicht darum, Dinge schönzureden. Das lässt sich aber gut bewerkstelligen, denn in Wirklichkeit überleben die meisten Krebspatientinnen und -patienten. Thematisch haben wir wenige Tabus, im Gegenteil, wir lassen ungewöhnliche Blickwinkel und Vergleiche zu, aber ohne Sensationsgier. Wir betreiben also Qualitätsjournalismus mit Lifestylecharakter, der Wertschätzung als Leitgedanken hat. Mit dieser Richtschnur geht vieles gut – und dann hat auch mal ein richtig schlechter Witz seinen Platz.


Bitte gib mir ein Beispiel für einen richtig schlechten Witz.
Wir haben den Haarausfall bei der Chemotherapie mal mit Waxing verglichen und als „best brazilian ever“ betitelt – und darauf keine einzige negative Reaktion bekommen. Betroffene haben häufig Galgenhumor und freuen sich, wenn nicht alles immer so ernst und traurig kommuniziert wird. Kurvenkratzer hebt sich ab, weil wir weder in Pastelltönen daherkommen noch diese bei Krebs häufige kriegerische Haltung einnehmen nach dem Motto „den Krieg gegen den Krebs gewinnen“. Beides ist nicht so meins, das Leben findet irgendwo dazwischen statt. 

Wer ist der typische User und auf welchen Kanälen seid ihr aktiv? 
Eindeutig weiblich. Frauen reden generell mehr, auch über ihre Erkrankung. Anfangs dachte ich, dass wir mehr männliche Inhalte brauchen, aber inzwischen habe ich den weiblichen Überhang akzeptiert. Vom Alter her ist die Community sehr unterschiedlich. Wir sind vor allem auf Facebook und Instagram aktiv, auf TikTok nicht – das halte ich nicht aus. 

Welche Auswirkung hatte die Coronapandemie auf eure Kommunikation?
Im Team und mit Partnern aus der Pharmaindustrie keine. Wir waren vorher digital unterwegs und sind es weiterhin. Die Pandemie hat uns sogar mehr Freiheit gegeben. Wir arbeiten dezentral und überregional. Ich lebe in Dänemark, eine Mitarbeiterin ist in Graz zuhause, zwei pendeln zwischen Wien und Salzburg, zwei leben in Wien, wo auch unsere Homebase ist – das passt gut. Das hat uns Corona geschenkt. Und die Herangehensweise erleichtert auch die Zusammenarbeit mit Kundinnen und Kunden sowie mit Partnern aus der Pharmaindustrie.

Und Community-seitig?
Das war nicht ganz so einfach, weil einige Präsenzveranstaltungen weggefallen sind. Im Oktober 2019 haben wir ein „Sing Along“ im Gartenbaukino in Wien durchgeführt zum Abba-Film „Mamma Mia!“, um Bewusstsein für die Früherkennung zu schaffen. Das ist ein Riesenthema, je lauter wir es trommeln, desto besser. Der Saal war voller Menschen in schrillen Siebzigerjahre-Outfits. Der Krebsblogger*innen-Kongress im März 2020 konnte hingegen nicht durchgeführt werden, er wurde mehrfach verschoben, soll im Juni 2021 virtuell stattfinden und nächstes Jahr dann in Präsenz, wenn das hoffentlich wieder möglich sein wird. 

 
Sing-Along: Über Krebs sprechen und gleichzeitig lachen, tanzen, singen und das Leben genießen? Für Kurvenkratzer ist das kein Widerspruch. Im Oktober 2019 brachte der Verein in Anlehnung an das Mammakarzinom den Abba-Film „Mamma Mia!“ im Wiener Gartenbaukino auf die Leinwand. 700 Gäste trudelten – meist in schrillen Siebziger-Outfits – ein, hatten eine gute Zeit und sorgten für mehr Bewusstsein für Brustkrebs. (Video: ©Verein Kurvenkratzer InfluCancer / Ape House Studios / Alexander Rauscher)


Dafür habt ihr einen Podcast mit dem klingenden Namen „Let’s talk about Krebs, Baby“. Bitte erzähl mir mehr über die Entstehungsgeschichte und die Ausrichtung.
Einen Podcast wollte ich schon seit Ewigkeiten machen, aber mir war klar, dass das aufwendig wird. Mit der Unterstützung von Novartis ist uns gelungen, das Projekt querzufinanzieren. Ein großer Vorteil von Podcasts ist die Verweildauer: Auf einer Website ist man mit drei oder vier Minuten schon gut dabei, recht viel länger halten sich User nicht bei einem Artikel auf. Podcasts erhalten hingegen deutlich mehr Aufmerksamkeit. Bei etwa 40 Minuten können Themen in aller Tiefe besprochen und Erfahrungswerte weitergegeben werden. Auch hier war für uns klar: Wir gestalten die Inhalte frech und angstfrei – jeweils mit ein oder zwei Interviewpartnerinnen oder -partnern, die einen unkonventionellen Blick ermöglichen.


Auch eine App ist in Arbeit. Worum geht es da, und wie weit seid ihr bei der Umsetzung? 
Wir entwickeln gerade mit der TU Graz den Prototypen unserer App „Chemo Buddy“, eines digitalen Wegbegleiters durch die Chemotherapie und die Nachsorge. Wir setzen dabei auf Playful Design, um das Nebenwirkungsmanagement zu erleichtern und die Arzt-Patienten-Kommunikation zu verbessern. Die Idee ist, dass sich die Nutzerin oder der Nutzer Erfolgserlebnisse holen kann. Ich hatte während meiner Therapien Post-its an der Tür zum Runterreißen – das geht digital besser! Und die App passt auch zum Zeitgeist von Corona, wo Telemedizin an Bedeutung gewonnen hat: Der behandelnde Arzt bzw. die Ärztin kann auf die Daten zugreifen und so auch aus der Ferne sehen, wie die aktuelle Lage ist. Gerade für Krebspatientinnen und -patienten mit geschwächtem Immunsystem ist das ein großes Plus. 

Wie stark eingebunden werden PatientInnen und PatientenvertreterInnen in Entscheidungsprozesse? Werden sie genug gehört?
In Wahrheit würden in Österreich 90 Prozent der Patientenvertretungen ohne die Unterstützung der Pharmaindustrie nicht existieren. Sie ist es auch, die Patientinnen und Patienten am ehesten einbindet. Aber es gibt viel Aufholbedarf. Viele Entscheidungspersonen in den Verbänden und Ausschüssen in Österreich und Deutschland waren selbst nie betroffen. Sie machen vieles richtig, vieles wissen sie aber einfach nicht und entscheiden somit auf einer anderen Grundlage. Dabei gibt es durchaus qualifizierte, professionelle Patientenvertreterinnen und Patientenvertreter, mit denen man diese Stellen besetzen könnte. Es ist auch ein strukturelles Problem, das einige regulative Änderungen erfordern würde. Denn Patientinnen und Patienten dürfen beispielsweise derzeit nicht das Studiendesign von klinischen Studien mitbestimmen, obwohl sie am besten über den Alltag mit ihrer Erkrankung Bescheid wissen. Patientenvertreter und -vertreterinnen haben außerdem keinen Zugang zu medizinischen Fachevents. Dabei wäre das so wichtig! Die Patientenstimme im öffentlichen Diskurs zu stärken, ist uns ein wichtiges Anliegen, und wir setzen uns für Shared Decision Making ein. Auf unserer Website teilen wir viele Checklisten, um die Betroffenen zu befähigen, Verantwortung zu übernehmen.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

 

„Kurvenkratzer ist das Gute, das aus meiner Erkrankung entstanden ist“, sagt Gründerin Martina Hagspiel. (Foto: ©Caro Strasnik)

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

Das könnte Sie auch interessieren: