Storytelling: Fundierte Inhalte mit Geschichten einprägsam vermitteln

Ob Bauphysik, ein mathematischer Beweis oder Stressmanagement: Mit Storytelling kann man die komplexesten Inhalte so vermitteln, dass alle sie Jahre später noch wissen. Aber welche Mechanismen stecken dahinter? Und wussten Sie, dass man die Gauß’sche Kurve sogar tanzen kann?

Meine Wissensheimat ist unter anderem die theoretische Physik. Die Zusammenhänge in der Relativitätstheorie und der Quantenphysik sind derartig komplex, dass die Physiker*innen immer schon Analogien von Geschichten nutzten, um die abstrakten mathematischen Formeln zu veranschaulichen. Sie sprachen von Zügen, Rolltreppen und Aufzügen oder Zwillingspaaren und der viel zitierten Schrödinger-Katze, um ihre Erkenntnisse einem breiteren Publikum zu vermitteln. All dies sind Erläuterungs- & Überzeugungsstorys. Storytelling war für mich daher, lange bevor der Begriff in Mode kam, bereits die mir „natürliche“ Form des Lehrens und des Lernens. 

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Tanz mit der Gauß’schen Kurve
Bereits im Alter von 22 Jahren, direkt nach Abschluss meines Doppelstudiums der Mathematik und Physik, landete ich in der Erwachsenenbildung. Ich unterrichtete 30 Männer, die sich berufsbegleitend zu Ingenieuren ausbilden ließen. Um meine Abendschüler munter und aufmerksam zu halten, verpackte ich die Formeln in sinnliche Geschichten. Die Rechenbeispiele würzte ich mit hofnärrischem Humor. Die Gauß’sche Glockenkurve tanzte ich sogar. 30 Jahre später wissen die Männer noch, dass die Standardabweichung Sigma in Brusthöhe liegt. Oder naturwissenschaftlich korrekt ausgedrückt:  Sigma ist die halbe Breite der Glockenkurve an der Stelle des Wendepunktes. Aber das hätten sie ohne meinen humorvoll-körperlichen Einsatz wahrscheinlich längst vergessen.

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Verblüffende Vergleiche
Um Schüler*innen ein technisches Studium schmackhaft zu machen, hielt meine Tochter einen Vortrag im Technischen Museum: „Faszination Bautechnik: Brücken spannen und Talsperren errichten“. Weil nur lustvolles Lernen nachhaltiges Lernen ist, entschied sie sich für Storytelling. So erzählte sie, dass der Maltastausee, der größte Stausee in Österreich, so groß ist, dass man die Großstadt Wien vom 1. Jänner bis zum 17. November mit seinem Wasser versorgen könnte. So viel Wasser braucht natürlich nicht nur eine breite und hohe, sondern auch eine dicke Staumauer. Mit dem Beton, der dafür verarbeitet wurde, könnte man eine vierspurige Autobahn vom Stadtrand von Wien bis nach Gleisdorf bauen. Ein solcher Vergleich ist wesentlich anschaulicher als ein Speicherraum von 200 Mio. m3 und ein Betonvolumen von 2 Mio. m3.

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Alltagsgeschichten mit neuen Inhalten füllen
Eines meiner Lieblingsbeispiele, wenn ich über Storytelling spreche, ist es, wie man das physikalische Phänomen Druck anhand einer Katze erklärt. Wenn die Katze flach am Bauch eines Menschen liegt, empfindet der es als angenehm. Man spürt nur das Gewicht, und das ist keine Kraft. Wenn die Katze mit den Pfoten über den Bauch geht, tut es hingegen weh: Und je kleiner die Pfote, desto größer der Druck. Eine einfache Geschichte – doch sie ist, im wahrsten Sinn des Wortes, prägend. „Du hast mir etwas angetan“, sagte beispielsweise eine Seminarteilnehmerin zu mir. „Bis gestern habe ich gewusst, dass ich Physik hasse und niemals freiwillig an Physik denken werde. Heute kommt in der Früh die Katze und mir fällt ein: Druck ist Katzenpfote.“ Ein anderer Teilnehmer mailte mir ein Dreivierteljahr nach dem Training ein Foto mit einer frisch betonierten Kellerdecke mit dem Abdruck von Katzenpfoten. 

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Sammeln Sie Augenblicke
Je authentischer Geschichten sind, desto stimmiger können wir sie vermitteln. Daher sind persönliche Geschichten die wirkungsvollsten. Eines meiner Lieblingszitate zu diesem Thema stammt aus dem Roman „Ansichten eines Clowns“ von Heinrich Böll: „Ich bin ein Clown und sammle Augenblicke.“ Schärfen Sie Ihre Wahrnehmung und beginnen Sie spannende Begebenheiten zu sammeln. Je größer Ihr Fundus an Episoden ist, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass Sie für ein Thema fündig werden. 

Warum der Esel eine Brücke braucht
Merk-würdiges merkt man sich. Eselsbrücken sind einprägsam und erleichtern das Lernen. Der Begriff „Eselsbrücke“ kommt übrigens daher, dass Esel nicht gern durch Wasser gehen. Selbst wenn es seicht ist, ziehen sie den Umweg über eine Brücke vor. Auch ich könnte Ihnen die Theorie hinter dem Storytelling auf dem direkten Weg erklären. Doch bei der Auflistung von nackten Fakten geht das Hirn schnell in den Widerstand des Desinteresses. Daher ist es zielführender, den Umweg über Geschichten zu gehen.

Apropos Eselsbrücke: Die Eselsbrücke für das Ohm’sche Gesetz lautet „URI“. U ist der Widerstand,  R die Spannung, I die Stromstärke. Genau so funktionieren Geschichten. Storytelling in einem Satz konzentriert: Jemand will etwas unbedingt erreichen und stößt dabei auf Widerstände. Im Zentrum steht ein aufzulösender Konflikt. Wenn das gelingt, entsteht der Flow des gemeinsamen Erlebens. 


Offene Loops halten die Spannung
Spannung ist ein physikalischer Begriff. Sie ist die Potenzialdifferenz und entsteht aus der Unterschiedlichkeit. Vom Aufeinanderprallen von Gegensätzen leben auch interessante Geschichten. Der Spannungsbogen beginnt mit einem Vertrauen stiftenden und Interesse weckenden ersten Satz. Geschichten fangen nie am Anfang an. Sie springen ins Thema und ziehen die Leser hinein. Man befindet sich inmitten des Geschehens. „Vor einer verschlossenen Tür sitzt eine schwarze Katze. Neben ihr liegt ein bunter Regenschirm.“ Weil unser Hirn will, dass etwas einen stimmigen Sinn ergibt, fragt es sich sofort, was die Szene soll, spinnt sie weiter. Es läuft Kino im Kopf. Genau darum geht es: Mit offenen Loops halten Sie die Spannung. Geschichten sind ein Spiel mit Erwartungen. Sie sind immer wieder vertraut und nehmen überraschende Wendungen.

Erwachsene Inhalte mit Kinderaugen sehen
Am spannendsten können wir Geschichten erzählen, wenn wir uns selbst auf sie freuen. Erich Kästner hat einmal gesagt: „Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist Mensch.“ Genau darauf beruht Storytelling: Mithilfe von Geschichten bringen „erwachsene Inhalte“ Menschen aller Altersgruppen zum Staunen mit strahlenden Kinderaugen, und zwar die Erzählenden und das Publikum!  Schön ist schließlich alles, was man mit Liebe betrachtet. Interesse findet, was interessant vermittelt wird. 

Aber: Geschichten sind eine wunderbare Verpackung – und kein Ersatz – für fundierte Inhalte. Storytelling ist das Gegenteil von „G’schichteldrucken“: Letzteres soll von den Fakten ablenken. Storytelling hingegen fokussiert die Aufmerksamkeit des Publikums auf die Botschaft.


Autorin: Mag.a Monika Herbstrith-Lappe, Keynote Speakerin, Top-Trainerin, Management Consultant & High Performance Coach, Autorin mehrerer Bücher, Gründerin und geschäftsführende Unternehmerin von Impuls & Wirkung – Herbstrith Management Consulting GmbH. www.MonikaHerbstrith-Lappe.com
Weitere Beiträge von ihr finden Sie auf ihrem Blog „Möglichkeits-Meer“

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