
Beruflich entscheiden – aber wie?
Entscheidungen müssen ständig getroffen werden – große wie kleine, auch bei uns in der Agentur. Wie lassen sich Entscheidungsprozesse vereinfachen? Antworten gibt einer der renommiertesten Entscheidungsforscher weltweit: Gerd Gigerenzer.
Gerd Gigerenzer ist Entscheidungsforscher. Er leitet das Harding Zentrum für Risikokompetenz und gilt als einer der 100 einflussreichsten Denker der Welt. Dieses Gespräch ist ein Auszug eines längeren Interviews, das wir für M!LK, das Magazin der FHWien der WKW geführt haben. (© Arne Sattler)
Herr Gigerenzer, TechCEOs wie Sam Altman leben es vor. Sie tragen immer den gleichen Rollkragenpullover, sparen sich die tägliche Entscheidung vor dem Kleiderschrank und konzentrieren sich auf Wesentliches. Können Sie das nachvollziehen?
Ja. Banale Entscheidungen, die erspare auch ich mir gerne. Die treffe ich einmal und erspare mir die Qual der Wahl. Wenn ich ein Paar Schuhe habe, das mir passt, dann kaufe ich gleich mehrere Paare, damit ich diese Entscheidung nicht ständig treffen muss.
Man entscheidet sich also, nicht zu entscheiden und spart so die Energie für Wichtigeres?
Richtig. Man führt ein paar Faustregeln ein, Heuristiken. Das kann jeder machen. Herbert Simon, Entscheidungsforscher und Nobelpreisträger, aß an seiner Uni jeden Mittag dasselbe – um sich die Entscheidung zu sparen – und die Zeit.
Wie kann ich dieses Loslassen trivialer Entscheidungen im Alltag trainieren?
Versuchen Sie es in einem guten Restaurant. Fragen Sie den Ober, was er heute hier essen würde, nicht was er Ihnen empfiehlt. Er weiß ja besser, was frisch vom Markt gekommen ist. Nach meiner Erfahrung fahre ich damit besser als meine Kollegen, die bei Tisch lange die Karte studieren.
Es gibt aber Entscheidungen, etwa im beruflichen Kontext, die eigenes Abwägen erfordern. In solchen Situationen haben viele Menschen Angst, etwas falsch zu machen – und entscheiden defensiv.
Nach meinen Untersuchungen in großen, DAX-notierten Unternehmen werden rund ein Drittel aller Entscheidungen dort defensiv getroffen. Das heißt: Der Vorstand, Abteilungsleiter oder Manager denkt, Option A wäre das Beste für die Firma, entscheidet aber bewusst für eine Option B, die zweitklassig ist. Warum? Weil er Angst hat, dumm dazustehen, wenn bei Option A etwas schiefgeht. Und darum fährt er besser mit einer weniger Risiko- aber auch weniger chancenbehafteten Option B. Bei der Entscheidung für B kann man schließlich, wenn etwas schiefgeht, sagen: Die anderen haben es auch schon so gemacht.
Wie sieht das in der Praxis aus?
Statt eine Entscheidung zu treffen, sagt man oft: ‚Wollen wir nicht noch ein Gutachten einholen?‘ – 30.000 Euro, zwei Monate später: nichts geändert, aber die Verantwortung abgegeben. Je größer die Unternehmen werden, desto defensiver und damit innovationsfeindlicher agieren sie. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass PayPal nicht von einer großen Bank entwickelt wurde und Google nicht von einem großen Medienkonzern.
Wie würden Sie denn das Gegenteil von „defensivem Entscheiden“ bezeichnen?
Als „Verantwortung übernehmen“ bei gleichzeitiger Identifikation mit dem Unternehmen. Dazu gehört auch, eine gewisse Wagnislust zu haben.
Wie sorgen Sie in Unternehmen für mehr Mut zum Risiko?
Es braucht in der Regel mindestens eine Person ganz oben, die das Problem erkennt und das Betriebsklima ändern will. Die wieder Freude an der Arbeit und Lust am Entscheiden schaffen will. Eine neue, weibliche Führungskraft rief neulich in einem großen Technologieunternehmen das Management zusammen: „Wir haben letztes Jahr diese unglückliche Entscheidung getroffen. Ich war auch dafür und es ging in die Hose. Jetzt lasst uns mal überlegen, was ich falsch gemacht habe und was wir alle falsch gemacht haben.“ Das setzt ein Signal, dass es hier nicht um Schuldzuweisungen geht, sondern darum, aus der Situation zu lernen. Also auch, Verantwortung zu übernehmen, wenn etwas schiefgeht.
Um Voranzukommen, muss man Entscheidungen treffen, auch against the odds, wie man in Amerika sagt.“
— Gerd Gigerenzer —
Wer so agiert, zeigt anderen, dass man Fehler machen und dazu stehen kann?
Ja. Eine weitere Methode arbeitet mit der „Gefängnis-Frei“-Karte aus dem Monopoly-Spiel. Jeder Entscheidungsträger im Unternehmen oder in der Abteilung bekommt eine. Wenn er eine riskante Entscheidung trifft, von der er glaubt, dass sie gut ist für das Unternehmen und sie geht schief, dann gibt er die Karte ab.
Das heißt, man ist sogar aufgefordert, Fehler zu riskieren?
Die Karte muss sichtbar für alle auf dem Schreibtisch liegen. So ändert sich automatisch die Unternehmenskultur. Wenn die Karte bei jemandem jahrelang liegt, stellt man sich natürlich ganz andere Fragen, oder? – Um Voranzukommen, muss man Entscheidungen treffen, auch against the odds, wie man in Amerika sagt. Und Amerika hätten wir Europäer, wenn nicht irgendwann eine mutige Entscheidung gefallen wäre, nie entdeckt.
Von Gerd Gigerenzer, Autor der Bestseller „Risiko“ und „Bauchentscheidungen“, erschien zuletzt 2024 der Band „Smart Management – Mit einfachen Heuristiken gute Entscheidungen treffen“.
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