In jedem steckt ein Held

In jedem steckt ein Held

... man muss ihn nur finden, um gute Geschichten zu schreiben. Bewusst wurde mir das neulich am Franz-Josefs-Bahnhof. 

Ich wartete auf meinen Zug, beobachtete die Leute um mich und kaute an einem Stück Nussstrudel, von dem mir meine Mutter eine ganze Dose voll mitgegeben hatte. Es dauerte nicht lange, bis mich ein paar Obdachlose anschnorrten. Ich hatte weder Münzen noch Zigaretten bei mir, also bot ich ihnen vom Strudel an. Ein etwa 50-Jähriger griff begeistert zu, ­plauderte: „Ich komm’ aus Dortmund, bin der Liebe wegen nach Wien gekommen. Jetzt ist die Liebe weg, die Wohnung weg und Job hab’ ich auch keinen. Nur noch meinen Speeezi.“ „Spätzl haast des“, mischte sich der ein, auf den der Dortmunder gezeigt hatte. Bald standen fünf Leute um mich und jeder erzählte vom Leben auf der Straße, von Schicksalen und Träumen. 

Ich blieb aus Neugier, denn ich liebe die Geschichten anderer Menschen. Als wäre ich gerade für eine Story in einem Magazin unterwegs, stellte ich Fragen, manövrierte mich also quasi in eine Interviewsituation.

Den drei Herren und zwei Damen gefiel es, so ernst genommen zu werden. Ein Phänomen, das ich auch bei meiner Arbeit ständig beobachte. Viele Menschen scheuen sich erst einmal, Held einer Story zu werden. Rufen wir beispielsweise Arbeiter dazu auf, sich für ein Porträt in ihrem Mitarbeitermagazin zu melden, herrscht eher Zurückhaltung. Sobald sich die Leute aber in der Interview- oder Reportagesituation befinden, genießen sie die Aufmerksamkeit und das Interesse, das ich ihnen entgegen­bringe. Jedes Mal freue ich mich auf den Moment, wenn ich spüre, wie in den Leuten die Erkenntnis heranreift: „Ich bin ja tatsächlich wichtig!“ und „Was ich tue, ist ja wirklich spannend!“

„Du bist entweder Psychologin oder Sozialarbeiterin, so, wie du zuhörst!“, mutmaßte einer der Obdachlosen. Ich lachte nur. Als ich in der Bahn saß, dachte ich über seine Worte nach: Ein paar Grundvoraussetzungen haben die Berufe nämlich durchaus gemeinsam: Empathie zum Beispiel – und ein Interesse an allen Menschen, egal wer sie sind. 

Ob Fließbandarbeiter, Banker oder CEO eines Weltkonzerns: Ich interviewe alle gleich gern – und alle anders. Ich ­versuche, mich in jeden einzufühlen, mit jedem seine Sprache zu sprechen, für jeden die richtigen Fragen zu finden. Anders als Psychologen oder Sozialarbeiter helfe ich den Menschen mit meiner Arbeit nicht aus schwierigen Situationen. Aber immerhin: Ich gebe ihnen ein gutes Gefühl. Und mir auch: Denn ich liebe gute  ­Geschichten! 

Diese Kolumne erschien erstmals in der Printausgabe der Tageszeitung „Der Standard“ vom 19. März.