Foto: © Reinhard Lang

Alle Sinne lesen mit

Werber, Corporate Publisher und ­Content Marketer – alle sprechen derzeit davon, dass man einzigartige und hochwertige Inhalte bieten müsse, um beim Konsumenten punkten zu können. Stimmt natürlich. Aber eine gute Aufmachung entscheidet über den Erfolg mit.

Können Sie sich noch an die Reclam-Hefte aus Ihrer Schulzeit erinnern? Sie enthielten die wohl großartigsten Inhalte, die unsere Zivilisation je hervorgebracht hat: Texte von Goethe, Schiller, Grillparzer, Aristoteles und, und, und. Zählten nur Inhalte, wären heute alle Bibliotheken knallgelb, denn die kleinen Bändchen boten ungekürzten Lesestoff zum Minitarif. 

Wie habe ich mich damals durch Goethes „Werther“ gequält – die Schrift war winzig, der Abstand zwischen den Zeilen eng, das Papier so dünn, dass die Buchstaben von der Hinterseite durchschienen. Nach kürzester Zeit taten mir die Augen weh. Nur mit Mühe konnte ich mich auf die leidenschaftliche Liebe Werthers zu Lotte einlassen. Diese Lesestrapazen tat ich mir 
nur an, weil ich Goethes Sprachkunst so sehr bewunderte. 

Aus einem ähnlichen Grund können Special-Interest-Magazine sich mitunter eine mickrige Aufmachung leisten. Wer sich für Waldviertler Schmalspurbahnen oder Briefmarken mit Blumenmotiven interessiert, hat keine allzu große Auswahl an Fachliteratur. Er liest, was er kriegen kann, egal, wie es aussieht. Wer allerdings keine ganz so fanatische Zielgruppe oder nicht absolut einzigartige Inhalte bieten kann, sollte seinen Rezipienten das Lesen leicht machen.   

Gut lesbare Schriften, hochwertige Fotos und ein übersicht­liches Layout sind dafür entscheidend. Aber nicht alleine. 
Ob ein Leser eine Publikation mag, hängt vom Zusammenspiel sehr vieler Faktoren ab, auch solchen, die wir vielleicht gar nicht bewusst wahrnehmen, wie dem Geruch des Papiers, seiner Struktur oder Stärke. 

Im Bereich der Unternehmenskommunikation gehen die Ansprüche an eine Publikation aber noch weiter. Idealerweise passt ihre Aufmachung nämlich auch zum Unternehmen. Ist es da nicht seltsam, wenn sich das Kundenmagazin eines Erotikhändlers gleich anfühlt wie ein Katalog für Fräsmaschinen?

Auch mein „Werther“ greift sich heute anders an. Ich habe ­nämlich vor ein paar Jahren etwas tiefer in die Tasche gegriffen und mir antiquarisch die „Ausgabe letzter Hand“ gekauft. 
Es steht zwar derselbe Text drin wie früher, aber der Lese­genuss ist unvergleichlich größer!

Diese Kolumne erschien erstmals in der Printausgabe der Tageszeitung „Der Standard“ vom 5. März.