Typographie: Wie Schrift manipuliert

Schriftwechsel mit Martin Tiefenthaler: Der Typograf, Designer und Lehrende an der Graphischen Wien hält sich momentan im schönen Osttirol auf. Dennoch hat er Zeit gefunden, uns einige Fragen über Typografie, ihre Wirkung auf unser Unterbewusstsein und Qualitätskriterien zu beantworten – schriftlich. Ein Auszug.

Beitrag von Mag. (FH) Brigitte Radl

Laien achten nicht bewusst auf die Typografie. Wirkt sie trotzdem?
M. Tiefenthaler: Das Paradoxe ist, dass genau die un- bzw. unterbewussten Dinge besonders wirkungsvoll sind und großen Einfluss auf uns nehmen. Song und Schwarz zeigten 2008 in ihrer Untersuchung „If it’s hard to read, it’s hard to do“, dass die Schriftwahl die Einschätzung der Lesenden vorbestimmt – zum Beispiel bei einem Kochrezept, wie lange es dauern oder wie schwer es sein wird, die Speise zuzubereiten. Die Schriftwahl ist also sehr weitreichend in ihrer Wirkung, bleibt aber von der lesenden Person unbemerkt.

Sie haben auch selbst einen Feldversuch zur Wirkung typografischer Gestaltung durchgeführt. Was war das Ergebnis?
In dem dreijährigen Versuch konnte ich nachweisen, dass ein mäßig witzig verfasster Text, der nach allen Regeln der Kunst gesetzt ist, als statistisch relevant lustiger empfunden wird als derselbe Text, der typografisch nachlässig und fehlerhaft gesetzt ist. Die Typografie und Gestaltung üben eine direkte Wirkung auf den Inhalt aus. Und das Unglaubliche daran ist, dass die Lesenden nie wissen, wie ihnen geschieht.

Wenn das alles unbewusst passiert: Welche Prozesse gehen da vor sich?
Wir – und damit meine ich unseren Körper, nicht unseren Geist – sind unglaublich sensible Wesen, die jede sinnlose Mehrarbeit nicht leisten wollen. Das heißt: Ist ein Text durch Schriftwahl oder/und Gestaltung nicht optimal lesbar, bedeutet das erschwerte Arbeit für die Augen und unser visuelles System im Gehirn, die sie nicht zu erfüllen gewillt sind. Das Lesen wird eingestellt, der Text wird als inhaltlich nicht relevant, uninteressant oder sogar unangenehm empfunden. Dadurch kann großer wirtschaftlicher Schaden entstehen: Entweder wird ein mühevoll erstellter Text nur an- oder gar nicht gelesen, oder er wird in seinem Inhalt nachteilig beurteilt.

Jetzt positiv formuliert: Was kann Typografie vermitteln?
Typografie vermittelt immer und ausschließlich Inhalte. Ein Text – von einer Wortgruppe bis zu 400.000 Anschlägen – in der einen oder anderen Schrift und/oder Gestaltung ist jedesmal ein anderer Text. Typografie definiert den Inhalt mit, verändert, moduliert, transponiert ihn. Das ist in etwa mit dem Tonfall vergleichbar, in dem ein Satz gesagt wird. Sie vermittelt subtil und nachhaltig den Charakter eines Unternehmens, die Qualität eines Produkts, die Stringenz einer Aussage, das Lebensgefühl in einer Werbebotschaft, den Anspruch von Fachliteratur, die Relevanz von Information, die Klarheit von Orientierung oder eben das Gegenteil davon – abhängig von ihrer ge- oder misslungenen Gestaltung.

Warum ist das gerade für Unternehmen wichtig?
Ein Unternehmen, das keinen Wert auf Typografie legt, verschenkt viel Impact. Das beste Bildmaterial, das ausgeklügeltste Konzept einer Website, die schönsten Farben eines Erscheinungsbildes werden nachhaltig geschwächt, wenn der Umgang mit Schrift das konterkariert, stört oder einfach nur nicht so unterstützt, dass ein Mehrwert entsteht. Typografie ist ein wesentlicher Bestandteil, der seine Wirkung unbemerkt ausübt. Daraus folgt, dass sie nicht Laien oder laienhaft Ausgebildeten überlassen werden sollte. Wenn Unternehmen TypografInnen für Aufgaben beschäftigen, die mit Sprache und Schrift zu tun haben, verschaffen sie sich dadurch einen Marktvorteil.

Welche Kriterien für „gute Typografie“ gibt es, die unbedingt beachtet werden sollten?
Kriterien für die Schriftwahl sind der auszudrückende Inhalt und die zu erwartende Interaktion zwischen der Botschaft, der Formenwelt der Schrift und der Zielgruppe. Ein weiteres entscheidendes Kriterium ist natürlich die Gestaltung: Die beste Schrift hilft nichts, wenn sie schlecht gesetzt ist. Einer der häufigsten Fehler beim Umgang mit Schrift ist beispielsweise das falsche oder fehlende Setzen von semantischen Weißräumen, oft gesehen bei der willkürlichen Verwendung von Binde- und Gedankenstrich. Wie der Typograf Hans Peter Willberg so richtig sagt: Die Verwechslung von Divis und Gedankenstrich ist genauso ein grammatikalischer Fehler wie die Verwechslung von drittem und viertem Fall. Das sieht man an folgendem Textbeispiel aus der Speisekarte eines hochklassigen Restaurants in Salzburg:

Ikarimi – Lachs mit Mangochutney und Eiskraut
Jakobsmuscheln auf Fenchel – Speckkraut und Orangenbutter

Ist das jetzt die namhafte Speise Ikarimi, bei der Lachs mit Mangochutney und Eiskraut serviert wird? Oder muss ich wissen, dass es sich um den bekannten Ikarimi-Lachs handelt? Und gibt es Jakobsmuscheln auf Fenchel und dazu Speckkraut oder die Jakobsmuscheln auf Fenchel-Speckkraut? Wichtig ist, dass es nicht nur darum geht, Typografie-Regeln, also die „Grammatik“, einzuhalten; – sondern zu verstehen, dass die Weißräume Bedeutung generieren.

Vollversion des schriftlich geführten Interviews mit Martin Tiefenthaler als PDF-Download

Warum Typografie und Gestaltung von entscheidender Bedeutung dafür sind, wie ein Text bei den Lesenden ankommt, haben wir im letzten Blogpost „Die Macht der Typo“ zusammengefasst. Außerdem finden Sie dort die wichtigsten Kriterien für die Schriftwahl, Beispiele aus unseren eigenen Mitarbeitermagazinen und Kundenmagazinen und Erklärungen, warum wir so vorgegangen sind – denn Typografie ist im Corporate Publishing ein wesentlicher Erfolgsfaktor.

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Martin Tiefenthaler ist Typograf und Designer. Er lehrt Typografie und Semiotik an der Graphischen in Wien und leitet seit mehr als 25 Jahren das Atelier ID IID IIIDesign. Tiefenthaler ist Mitbegründer der typographischen gesellschaft austria und Mitglied von designaustria. Er hat die Headline-Schrift „ocr-t“ entwickelt.

Foto: © Johannes Raimann